Thermische und mechanische Fertigungs- und Fügeprozesse erzeugen in Metallbauteilen Eigenspannungen, die Einfluss auf die spätere Belastbarkeit haben. © MTA

EASI-STRESS: Eigenspannungen in Bauteilen zerstörungsfrei auf der Spur

 

Seit dem 1. Januar 2021 ist OHB Teil des von der EU im Rahmen von Horizont 2020 finanzierten Projektes EASI-STRESS. Ziel des Projektes ist es, Standards zur zerstörungsfreien Analyse von Eigenspannungen in Bauteilen zu entwickeln. OHB beschäftigt sich bereits seit 2018 intensiv mit dem Thema und vertritt im Projektkonsortium die Interessen der europäischen Raumfahrt und der deutschen Industrie.

Im Interview erklären Projektleiter Axel Müller sowie Roland Schneider und Marco Mulser aus der Technologiekoordination warum Eigenspannungen in Bauteilen ein Problem darstellen, wie diese analysiert werden können und in welcher Phase sich das EASI-STRESS-Projekt aktuell befindet.

Worum geht es im Projekt EASI-STRESS? Was ist die Zielsetzung?

Axel Müller: EASI-STRESS ist ein Projekt, das von der EU im Rahmen von Horizont 2020 gefördert wird. Das Projekt hat das Ziel, zerstörungsfreie Prüfverfahren zur Charakterisierung von Eigenspannungen in metallischen Werkstoffen gegenüber zerstörenden Analysemethoden zu validieren und Standards zu entwickeln. Durch die Einbeziehung von Industriepartnern soll der Schritt zur Prozessentwicklung und Qualitätssicherung in der Industrie vollzogen werden.

Roland Schneider: Bisher sind zerstörungsfreie Prüfverfahren zur Bestimmung von Eigenspannungen noch nicht sonderlich weit verbreitet. Das wollen wir durch EASI-STRESS ändern.

Was sind Eigenspannungen und warum ist es wichtig, diese zu charakterisieren?

Marco Mulser: Eigenspannungen sind mechanische Spannungen, die in einem Körper auftreten, ohne dass äußere Kräfte auf ihn einwirken. Es handelt sich dabei um Verzerrungen in der Struktur des Festkörpers, die Schwachstellen im Bauteil darstellen können. In metallischen Bauteilen entstehen derartige Spannungen in der Regel durch thermische und mechanische Fertigungs- und Fügeprozesse, zum Beispiel beim Schweißen, Fräsen, Gießen oder auch beim 3D-Druck. Von außen sieht man dem Bauteil die innere Vorbelastung nicht an, aber Eigenspannungen haben entscheidenden Einfluss auf die Materialermüdung und können sogar zu katastrophalem Materialversagen führen.

Wie können Eigenspannungen in Bauteilen bestimmt werden?

Axel Müller: Eigenspannungen sind eine intrinsische Größe. Das bedeutet, dass sie nicht direkt messbar sind und nur indirekt bestimmt werden können. Man muss also andere Größen messen und die Eigenspannungen dann daraus ableiten. Grundsätzlich unterscheidet man dabei zwischen zerstörenden und zerstörungsfreien Messverfahren. Die aktuell am häufigsten eingesetzte Methode zur Messung von Eigenspannungen ist die Bohrlochmethode. Dabei handelt es sich um eine zerstörende Methode, bei der gezielt ein Bohrloch gesetzt wird, das an der Messstelle das vorhandene Spannungsgleichgewicht stört und dabei Deformationen im Material auslöst. Aus den Deformationen lässt sich anschließend die Eigenspannung vor Einbringung des Bohrlochs bestimmen. Entscheidender Nachteil dieser Methode ist natürlich die Zerstörung des Bauteils. Das ist einer der Gründe, warum sich das EASI-STRESS-Projekt mit zerstörungsfreien Analysemethoden befasst. Zu diesen zählen die Röntgenbeugung, die Synchrotronbeugung und die Neutronenbeugung. Bei allen Beugungsverfahren werden verschiedene Arten von Strahlung genutzt, um Gitterverzerrungen im Metall sichtbar zu machen. Aus den Gitterverzerrungen lassen sich dann Rückschlüsse auf die Eigenspannungen und deren Richtungsabhängigkeit ziehen.

Welche Vorteile haben zerstörungsfreie Prüfverfahren?

Roland Schneider: Sie haben in erster Linie den Vorteil, dass sie das zu untersuchende Bauteil eben nicht zerstören und man somit Messungen an Bauteilen durchführen kann, die für den tatsächlichen Einsatz bestimmt sind. Zudem können die im Material herrschenden Eigenspannungen auch räumlich dargestellt werden.

Axel Müller: Und dadurch, dass man das Bauteil nicht zerstört, eröffnen sich ganz neue Untersuchungsmöglichkeiten. Man kann zum Beispiel Bauteile vor und nach Umwelttests untersuchen, den zeitlichen Verlauf von Ermüdungsprozessen abbilden oder spannungsreduzierende Maßnahmen direkt bewerten.

Welche zerstörungsfreien Prüfverfahren werden im EASI-STRESS-Projekt untersucht?

Marco Mulser: Ziel des EASI-STRESS-Projektes ist es, die Synchrotronbeugung und die Neutronenbeugung als zusätzliche Verfahren zur Bestimmung von Eigenspannungen in metallischen Bauteilen zu etablieren. Im Vergleich zur Röntgenbeugung haben diese beiden Verfahren den Vorteil, dass eine größere Eindringtiefe erreicht wird und auch komplexe Geometrien untersucht werden können.

Wie setzt sich das EASI-STRESS-Konsortium zusammen?

Axel Müller: Wir haben eine enge Kooperation zwischen Wissenschaft und Industrie. Das EASI-STRESS-Konsortium besteht aus fünfzehn Partnern, darunter mehrere Großforschungseinrichtungen mit Zugang zu Teilchenbeschleunigern und Vertreter verschiedener Industrien. EASI-STRESS ist ein EU-Projekt, insofern ist auch das Konsortium europäisch. OHB vertritt die europäische Raumfahrt und die deutsche Industrie. Es sind aber auch Unternehmen aus dem Mobilitäts- und dem Energiesektor beteiligt. Die Projektkoordination liegt beim Dänischen Technologieinstitut in Aarhus.

Wie sieht die Arbeit im Projekt EASI-STRESS in der Praxis aus?

Axel Müller: Das Projekt hat mehrere Teilziele, die sich am Ende zu dem eingangs genannten Gesamtziel zusammenfügen. Ein wichtiger Schritt ist, dass die Methoden der Synchrotron- und Neutronenbeugung durch Messungen an verschiedenen Prüfkörpern gegenüber den etablierten zerstörenden Methoden validiert werden. Zudem wurden bereits Ringversuche gestartet, um die an verschiedenen Versuchsständen erhaltenen Ergebnisse miteinander zu vergleichen. Um zu einem Standardverfahren zu gelangen, ist es wichtig, dass die von verschiedenen Forschungseinrichtungen und Arbeitsgruppen erzielten Ergebnisse nachvollziehbar und vor allem auch reproduzierbar sind.

Marco Mulser: Und damit das gewährleistet ist, sollen als Teil von EASI-STRESS unter anderem auch standardisierte Prozesse für die Probenvorbereitung, Versuchsdurchführung und Datenauswertung entwickelt werden. Auch das Format, in dem die Daten ausgegeben werden, soll standardisiert werden. Dadurch wird sichergestellt, dass die durch Messungen erzielten Ergebnisse wirklich für Industrie und Wissenschaft nutzbar sind und zum Beispiel zur Validierung von Simulationen eingesetzt werden können.

Welche Rolle spielt OHB dabei?

Axel Müller: Das Projekt EASI-STRESS will die Industrie dabei unterstützen, ihre Werkstoffe bestmöglich zu analysieren und zu verbessern. Das bedeutet aber natürlich auch, dass die Industrie ihre Anforderungen spezifizieren muss. OHB vertritt die europäische Raumfahrt und bringt Erfahrungen aus der Praxis ein. Bei welchen Bauteilen ist es besonders wichtig, die Eigenspannungen zu kennen? Wo gab es in der Vergangenheit Schadensfälle? Wo kann durch zerstörungsfreie Prüfverfahren der größte Mehrwert erzielt werden? Das sind die Fragen, auf die wir die Antworten haben.

Marco Mulser: Und aus diesen Antworten ergeben sich natürlich konkrete Anforderungen an die Messverfahren, die wir an das Konsortium kommunizieren. Insgesamt erhoffen wir uns, dass wir am Ende des EASI-STRESS-Projektes die passenden Werkzeuge und Prozesse haben, um Spannungen in Bauteilen besser vorhersagen zu können. Dann könnten wir diese bereits bei der Konstruktion berücksichtigen und dadurch möglicherweise Material und damit Gewicht einsparen, zum Beispiel bei der Auslegung von Bauteilen im 3D-Druck. Zudem kann die genaue Kenntnis von Spannungen dazu beitragen, dass neue Materialien oder Verfahren schneller qualifiziert werden können.

Axel Müller: OHB hat 2018 auch bereits eigene Messkampagnen durchgeführt und kann bei EASI-STRESS auf diese Erfahrungen zurückgreifen. Damals wurden unter anderem 3D-gedruckte Komponenten und Spannungsverläufe entlang von Schweißnähten mit Hilfe von Beugungsverfahren untersucht.

Wie ist der aktuelle Projektstatus?

Axel Müller: Das Projekt läuft seit dem 1. Januar 2021 und endet am 31. Dezember 2023. Vor Weihnachten wurden die ersten Ringversuche an speziellen Probenkörpern gestartet. In 2022 werden die Probenkörper von den Arbeitsgruppen an den verschiedenen Forschungseinrichtungen mit den jeweils vorhandenen Synchrotron- und Neutroneninstrumenten untersucht und die Daten individuell ausgewertet. Parallel erfolgen Messungen an industrierelevanten Materialien und Geometrien. Die Versuche sind deshalb besonders interessant, weil die Probenkörper so konzipiert wurden, dass sie verschiedene industrielle Umformungs- und Verarbeitungsprozesse nachbilden. In einer späteren Phase des Projektes sollen diese Prozesse anhand von Fallstudien, die von den Industriepartnern festgelegt werden, auch an realen Bauteilen untersucht werden. An dieser Stelle werden wir dann natürlich auch reale Bauteile aus der Raumfahrt mit ins Spiel bringen und sind schon gespannt auf die Ergebnisse.