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Eine Kolumne von Marco Fuchs: Gedanken über Zeit und Raum

„Europa muss aufpassen, nicht den Anschluss zu verlieren“

10. November 2021. Ich war kürzlich auf dem Internationalen Raumfahrtkongress IAC, der in diesem Jahr in Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten stattgefunden hat. Dort trafen sich mehr als 6.500 Delegierte aus 110 Ländern der Welt, um sich über die neuesten Trends und Entwicklungen in der Raumfahrt auszutauschen. Es war eine faszinierende Woche, nicht nur wegen der Vielzahl an technischen und wissenschaftlichen Vorträgen – ich war begeistert, welche Dynamik und welches Tempo viele Staaten in der Raumfahrt an den Tag legen. Die Raumfahrt boomt weltweit, das war in diesen Wochen nirgendwo mehr zu spüren als bei diesem Branchen-Treffen in den Emiraten.

Und dieser Tage wird die Raumfahrtbegeisterung in Deutschland und weltweit noch weiter zunehmen, wenn die Falcon-9-Rakete mit dem deutschen Astronauten Matthias Maurer an Bord der Crew-Dragon-Kapsel Richtung Raumstation ISS aufbrechen wird. Und die Faszination speist sich nicht nur aus dem Umstand, dass es auch rund 60 Jahre nach dem Beginn der astronautischen Raumfahrt immer noch wie ein Abenteuer anmutet, Menschen mehrere hundert Kilometer weit ins All hinauszuschießen. Das eigentlich Atemberaubende ist der Start der Rakete selbst: die Kräfte, die beim Abheben dieses Ungetüms walten, bringen jede einzelne Faser im Körper zum Schwingen. Ich habe bei jedem Start, den ich in meinem Leben aus der Nähe verfolgen durfte, ein Gefühl der Erhabenheit gespürt – aber nicht im Sinne von Hochmut oder Stolz, sondern mehr im Sinne von Würde und Feierlichkeit. Ich empfinde es nämlich immer noch als faszinierend, dass es der Menschheit gelungen ist, die Kräfte der Physik auf diese Weise zu überwinden.

Astronauten als Influencer

Wenn Matthias Maurer und seine Crew-Mitglieder dann auf der ISS angekommen sind, werden sie ein halbes Jahr lang nicht nur sehr ernsthafte wissenschaftliche Experimente machen, sondern auch zu Influencern aus dem All werden. Unter „@astro_matthias“ wird unser deutscher Astronaut regelmäßig Tweets von der Mission „Cosmic Kiss“ zur Erde senden. Denn auch Nasa und Esa haben längst verstanden, dass die Bedeutung der wissenschaftlichen Experimente auf der ISS der Öffentlichkeit oft nicht ausreichend vermittelt werden kann. Spektakuläre Bilder aus mehr als 400 Kilometern Höhe sorgen für deutlich mehr Aufmerksamkeit – Alexander Gerst hatte es bei seiner „Horizons“-Mission 2018 vorgemacht.

Selbstverständlich finde ich diese größere Aufmerksamkeit für die Raumfahrt gut. Ich bin ja schließlich Raumfahrtunternehmer. Aber ich bin auch ein Bewohner dieses Planeten – und deshalb sehe ich in dieser Art des notwendigen Marketings für die staatlich finanzierten ISS-Missionen auch eine wichtige Botschaft an alle Völker dieser Welt. Denn wie schon bei den vielen Tweets von Alexander Gerst werden auch die Botschaften von Matthias Maurer allen Menschen auf der Welt die Wunden zeigen, die der Klimawandel und unser verschwenderischer Umgang mit Ressourcen auf dem Planeten hinterlassen haben. Einen passenderen Zeitpunkt hätte es nicht geben können, um mit Bildern von der ISS auf die Umweltprobleme der Erde hinzuweisen: dieser Tage geht in Glasgow in Schottland der Weltklimagipfel zu Ende. Und nach allem, was ich bislang darüber gehört habe, wird es eine der entscheidenden Zusammenkünfte im Kampf gegen den Klimawandel gewesen sein.

Raumfahrt ist einer der Schlüssel im Kampf gegen den Klimawandel

Der Klimawandel war natürlich auch einer der Diskussionspunkte auf dem IAC in Dubai. Die Raumfahrt ist mit ihren Technologien einer der Schlüssel im Kampf gegen die Veränderung von Klima und Umwelt. Nur aus dem All lässt sich das System Erde mit all seinen Wechselwirkungen annähernd erfassen und verstehen. Basis dafür sind Satelliten. Rund 3.000 von ihnen fliegen in verschieden hohen Bahnen um die Erde. Sie verrichten viele nützliche Dienste, die die meisten Menschen jedoch kaum mit einer Infrastruktur im All verbinden: die tägliche Wettervorschau und die Navigation auf dem Smartphone laufen darüber ab. Ohne Daten von Navigationssatelliten würde auch Chaos in Energienetzen oder auf Finanzmärkten ausbrechen, sie sind auf deren hochpräzisen Zeitsignale angewiesen. Erdbeobachtungssatelliten erfassen die Veränderungen der Erde und der Atmosphäre, deren Daten dann Eingang in bessere Klimamodelle finden.

Raumfahrt globalisiert und demokratisiert sich

Die Digitalisierung und die weltweite Vernetzung sorgen zudem dafür, dass sich die Raumfahrt globalisiert und demokratisiert. Wer eine bestimmte Menge Geld zur Verfügung hat, kann heute ins Raumfahrtgeschäft einsteigen. Elon Musk und Jeff Bezos sind Beispiele dafür – zugegeben, sehr exklusive Beispiele. Doch inzwischen gibt es auf der Welt unzählige Startups, die sich mit Anwendungen aus dem All beschäftigen. Digitale Geschäftsmodelle machen es möglich. Und der Bedarf ist riesig: Analysen gehen davon aus, dass sich das Marktvolumen in der Raumfahrt bis 2040 nahezu verzehnfachen und zum Billionengeschäft werden wird.

All diese Dienste und Technologien der Raumfahrt waren über Jahrzehnte eine Domäne von Amerikanern, Russen und Europäern. Auch das ist vorbei. Der Rest der Welt hat aufgeholt, allen voran Asien. Die Raumfahrtprogramme von China und Indien sind extrem ambitioniert. Vor allem die Chinesen nutzen die Raumfahrt als Mittel, um ihr Prestige zu steigern und zu einem ernsthaften Konkurrenten der Amerikaner zu werden. Der IAC in Dubai hat aber eindrucksvoll gezeigt: auch andere Regionen der Welt streben mit Macht ins All. Die Vereinigten Arabischen Emirate zum Beispiel wollen auf einem Asteroiden landen, schicken eine Sonde zur Venus, eine andere ist in diesem Sommer in die Umlaufbahn des Mars eingeschwenkt, für 2024 ist eine Mission zum Mond geplant. Die Araber sind nur einer der zahlreichen Player im Rennen ums All. Inzwischen gibt es rund 100 Staaten weltweit, die eigene Raumfahrtagenturen gegründet haben, zuletzt hat der zentralafrikanische Staat Ruanda eine solche Agentur gegründet – und kurz darauf angekündigt, eine große Konstellation von Satelliten für Breitbandinternet ins All zu bringen.

Als Deutscher und überzeugter Europäer bin ich bei all diesen Beobachtungen etwas ins Nachdenken gekommen. Noch können wir dank unserer Ingenieurinnen und Ingenieure in der Raumfahrttechnologie mit den Besten der Welt mithalten, vor allem im Bereich der Satellitentechnologie gehören Deutschland und viele ESA-Staaten zur absoluten Spitze. Das ist aber schon nicht mehr so bei der Raketentechnologie. Da sind die Unternehmen aus den Vereinigten Staaten längst Jahre voraus. Diesen Rückstand wieder aufzuholen, wird sehr schwer. Doch auch in anderen Feldern muss Europa aufpassen, nicht den Anschluss zu verlieren. Die Branche ist gerade dabei, sich sehr stark in Richtung Kommerzialisierung zu entwickeln. Dieser Vorgang wird allgemein mit dem Begriff New Space umschrieben. Im New Space tummeln sich jede Menge agiler, hochinnovativer Startups, die dank der Möglichkeiten von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz mit Daten aus dem All Plattform-Geschäftsmodelle aufbauen. Das Wagniskapital dafür kommt allerdings nur selten aus Europa oder gar Deutschland.

Raumfahrt-Startups müssen stärker gefördert werden

Wenn wir also nicht aufpassen, dann werden diese jungen, innovativen Unternehmen mit ihren hochtalentierten Spezialisten dem Ruf von Geldgebern aus den USA, China oder anderen aufstrebenden Regionen der Welt folgen. Wir müssen deshalb unbedingt mehr für die Förderung von Startups in der Raumfahrt tun. Deutschland hat mit dem Wettbewerb für die Förderung von Microlauncher-Startups einen Anfang gemacht; der neue ESA-Generaldirektor Josef Aschbacher hat mit seiner Agenda 2025 einen klaren Schwerpunkt auf Kommerzialisierung und Investitionen in Startups der Raumfahrt gesetzt. Das geht alles in die richtige Richtung, wird aber nicht reichen, um mit der dynamischen Entwicklung im Rest der Welt mitzuhalten.

Die Gelegenheit, in der Weltraumwirtschaft den nächsten Sprung zu machen, war selten so günstig wie im Moment. Raumfahrt und ihre Anwendungen werden in den nächsten zehn Jahren so bedeutend für das Funktionieren von Gesellschaften und Volkswirtschaften sein wie nie zuvor. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Europa in diesem historischen Boom nicht unter den Top-Playern sein wird. Um aber wirklich ganz vorne dabei zu sein, muss sich die Politik in Deutschland und Europa jedoch noch viel klarer zu den mit der Raumfahrt verbundenen Möglichkeiten positionieren – und die Chancen für die Volkswirtschaft und den Wohlstand, der den Gesellschaften daraus entstehen kann, viel verständlicher in der Öffentlichkeit erklären.

Es gibt wenige Branchen, die derzeit einen ähnlichen Boom und ähnliche Wachstumsprognosen zu verzeichnen haben wie die Raumfahrt. Auch in Deutschland könnte in den nächsten Jahren daraus eine Art Goldgräberstimmung entstehen – hunderte Startups haben sich in den vergangenen Jahren allein in der Bundesrepublik gegründet. Drei Microlauncher-Startups arbeiten daran, bis 2023 ihren Erstflug zu schaffen. Und ein Konsortium ist guter Dinge, einen Raumfahrtbahnhof in der Nordsee bis 2023 zu verwirklichen. Wenn sich diese Vorhaben alle umsetzen lassen, kann eine Dynamik entstehen, aus der heraus sich ganz neue industrielle Raumfahrt-Cluster bilden. Dort arbeiten die Raumfahrtunternehmen selbstverständlich mit der Automobil- und Luftfahrtindustrie zusammen, weil diese die längsten Erfahrungen mit industrieller Serienfertigung haben. Sie kooperieren mit Materialwissenschaftlern, weil es beim Flug ins All auf jedes Gramm ankommt, wenn es um den günstigsten Preis geht. Und sie nutzen ganz neue Finanzierungsmöglichkeiten, weil der Nutzen von Diensten aus dem All für die gesamte Volkswirtschaft zu einem unverzichtbaren Instrument der Unternehmensplanung geworden ist.


Zur Person

Marco Fuchs (Jahrgang 1962) studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Hamburg und New York. Von 1992 bis 1995 arbeitete er als Anwalt in New York und Frankfurt am Main. 1995 trat er in das Unternehmen OHB ein, das seine Eltern aufgebaut hatten. Seit dem Jahr 2000 ist er Vorstandsvorsitzender der jetzigen OHB SE und seit 2011 der OHB System AG. Marco Fuchs ist verheiratet und hat zwei Kinder.